Am Ende verbeugte sich nicht eine Person, sondern ein ganzes Grüppchen. Und obwohl fast niemand die jungen Designer mit Namen kannte, erhob sich das Publikum dennoch zu Standing Ovations. Wenngleich der Applaus sicherlich teils Frida Giannini, der jüngst nach zehn Jahren überraschend gefeuerten Kreativdirektorin von Gucci, gebührte, war es doch einer der Überraschungscoups der Mailänder Fashion Week. Alessandro Michele, der kurze Zeit spä- ter zur neuen Kreativspitze des italienischen Traditionslabels ernannt wurde, schickte eine Kollektion über den Laufsteg, die eines der zen- tralen Themen perfekt abbildete: das Spiel mit den Geschlechtern. Schluppenblusen aus roter Seide, knappe Zopf-Strick-Pullunder und übergroße Wildleder-Schultertaschen erinnerten an die Stilistik des 70er-Jahre-Melodrams ,Love Story' - wobei in diesem Fall die Garderobe mehr für Ali MacGraw als für Ryan O'Neal geeignet schien. Ob Mann oder Frau: Es hat den Anschein, als ob die Designer der Jetztzeit sich keine großartigen Gedanken mehr über das Geschlecht machen. Prada, J.W. Anderson, Raf Simons, Maison Margiela oder Rick Owens proklamieren eine Welt, in der 'gender' mehr als eine Illusion erscheint. Vor allem letzterer ließ Tuniken im Lendenbereich mit Luken und Öffnungen versehen - inspiriert von einem Filmset im U-Boot. Seine Models schickte er in gewohnt provozierender Manier natürlich ohne Unterwäsche auf die Bühne. Die Konsequenz? Flitzer auf dem Catwalk! Ein kleiner Skandal in der Internetsphäre entfachte. Geradezu lächerlich, wenn man an die offenkundige Sexualität in der Frauenmode denkt - bitte gleiches Recht für alle! Und auch die Valentino-Designer deklarieren: "Geschlecht erscheint uns als ein so altertümliches Wort. In der heutigen Zeit geht es mehr denn je um den kreativen Selbstausdruck. Der moderne Mann hat die Freiheit, so zu sein, wie er will. Das ist das Novum der Jetztzeit!" Doch woher entspringt diese neue Tendenz? Ist es vielleicht die Ratlosigkeit in der Männerwelt? Ratlosigkeit im Sinne seines traditionellen Männerbildes, das von der weiblichen Emanzipation deutlich in Frage gestellt wurde. In den achtziger Jahren setzte sich die Karrierefrau in der Arbeitswelt mit einer Männeruniform durch - plumpe Hosenanzüge scheinen heutzutage passe (und demode) für eine gefühl- volle Gentlewoman zu sein. Die Frau hat sich von der Emanzipation emanzipiert. Was unweigerlich die Frage aufkommen lässt: Wie definiert sich ein reflektiertes Männerbild in der Neuzeit? Wichtig sind sicherlich nicht mehr nur profane, messbare Faktoren wie Reichtum oder Macht; der Mann sehnt sich auch nach Begehrlichkeit, Sinnlichkeit und Individualität. Es ist gerade dieser Individualismus unserer Gesellschaft wie auch die Globalisierung, die die Menswear florieren lässt. Die neue Modelust der Männer geht mit einem großen Selbst-bewusstsein einher - und außerordentlichem Wissen über die traditionell kodierte Herrengarderobe. Hier arbeitet sich Stefano Pilati an einer Neudefinition der körpernahen italienischen Silhouette ab, die er zugunsten längerer Sakkos und weiterer, kürzerer Hosen verschiebt - seine betont männliche Model-Truppe steht in starkem Kontrast zu den Jünglingen von Gucci & Cd. In seiner jüngsten Kollektion arbeitet er mit traditionellen Harris-Tweed-Stoffen, gibt ihnen aber einen neuen Twist. Da schimmern Sakkos, als ob sie mit einer Metallschicht überzogen worden wären - Pilati verarbeitete hier recycelte Garne. Er ist ein Meister darin, im Spiel mit der Materialität zu brillieren. Kein Wunder also, dass der charismatische Designer als neuer Giorgio Armani in der Menswear gehandelt wird! Ebenfalls in dieser Disziplin lobend zu erwähnen ist das Debüt von Rodolfo Paglialunga, der seinen Einstand im Hause Jil Sander feierte. Der Italiener kreiert scharf akzentuierte Silhouetten mit voluminösen Bundfaltenhosen, die zu weiten Polos und Doppelreihermänteln kombiniert werden - in einer traumschönen 70er-Jahre-Farbklaviatur. Bravissimo! Deutlich jünger hingegen inszeniert Kris van Assche seine klar kommerzielle Kollektion für Dior Homme. Es führt vor, wie sich eine junge Männergeneration Mode im Alltag am liebsten vorstellt: Anzüge werden zu High-Tech-Sneakers getragen, Smokings dekoriert Mann mit Pin-Buttons und Baseballcap, und Lederjogginghosen vereinen sich mit Hemd und Krawatte - sportive Lässigkeit clasht mit sartorialer Konfektion. Zwischen Softie-Look und Macho-Attitüde - die internationale Menswear führt die Vielfältigkeit des kontemporären Mannes vor. Wohin steuert er? Eine Frage, die Mann sich individuell beantworten muss. Die Gesellschaft lässt es zu - welcome to freedom!
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